Wir sahen seine Herrlichkeit

Nachdem König Salomon den Tempel des HERRN errichtet hatte, zog die Herrlichkeit Gottes in Gestalt einer Wolke darin ein:

Und es geschah, als die Priester aus dem Heiligen hinausgingen, da erfüllte die Wolke das Haus des HERRN; und die Priester konnten wegen der Wolke nicht hinzutreten, um den Dienst zu verrichten; denn die Herrlichkeit des HERRN erfüllte das Haus des HERRN (1Kön 8, 10f).

Die Herrlichkeit des HERRN blieb dort eine lange Zeit, aber verließ den Tempel, als Hesekiel zum Propheten berufen wurde und Jerusalem kurz vor der Zerstörung stand, weil die Bewohner des Südreiches Juda Gott vergessen hatten und sich auch nicht vom Untergang Israels warnen ließen. Fast 600 Jahre kehrte sie nicht nach Jerusalem zurück. Damals sah Hesekiel die Herrlichkeit des HEERN als glanzvolle und furchterregende Erscheinung. Nach diesen 600 Jahren erschien sie jedoch nicht in der Gestalt einer Wolke, sondern erstaunlicherweise als zwölfjähriger Junge; es war auch nicht der Schein von Feuer, der den Tempel erfüllte, sondern die Worte des Jungen, die alle, die ihn hörten, aus der Fassung brachte "über sein Verständnis und seine Antworten" (Lk 2, 47). Die Herrlichkeit Gottes - nahe genug, um sie zu berühren. Was hatte das zu bedeuten? 

Dieser Junge hieß Jesus, der später 12 Israeliten zu seinen Schülern machte. Vor allem sie, als seine engsten Vertrauten, mussten einen tiefen Eindruck davon gewonnen haben, wer Jesus war; Johannes fasst seine Begegnung mit ihm am Anfang seines Evangeliums zusammen:
Und das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns, und wir haben seine Herrlichkeit angeschaut, eine Herrlichkeit als eines Eingeborenen vom Vater, voller Gnade und Wahrheit (Joh 1,14).

Das entrissene Königreich

Alter Orient ~ 931 v. Chr.



"Und Salomo legte sich zu seinen Vätern und wurde in der Stadt seines Vaters David begraben. Und sein Sohn Rehabeam wurde an seiner Stelle König" (1Kön 11,43).


Nach vierzig Jahren ungebrochener Herrschaft des Königs Salomo besiegelt seine Abwendung vom HERRN zum Götzendienst seiner unzähligen Frauen die Spaltung des Reiches Israel. Nur der Stamm Juda beschließt, unter der Hand Rehabeams zu leben, während sich die Volksmengen um Jerobeam scharen, der schon zur Zeit Salomos zum König bestimmt war: "Da fasste Ahija den neuen Mantel, den er anhatte, und zerriss ihn in zwölf Stücke, und er sagte zu Jerobeam: Nimm dir zehn Stücke! Denn so spricht der HERR, der Gott Israels: Siehe, ich will das Königreich aus der Hand Salomos reißen und will dir die zehn Stämme geben. Aber der eine Stamm soll ihm weiterhin gehören wegen meines Knechtes David und Jerusalems wegen, der Stadt, die ich erwählt habe aus allen Stämmen Israels. Denn sie haben mich verlassen und haben sich niedergeworfen vor Astarte, der Göttin der Sidonier, vor Kemosch, dem Gott der Moabiter, und vor Milkom, dem Gott der Söhne Ammon, und sind nicht auf meinen Wegen gegangen, dass sie getan hätten, was recht ist in meinen Augen. Und meine Ordnungen und meine Rechtsbestimmungen hat er nicht bewahrt wie sein Vater David" (1Kön 11,30-33).

Das Chaos der folgenden 350 Jahre ist nur schwer in ein paar Zeilen zusammenzufassen. Eine Schar von 40 Königen - 20 Könige, die im Laufe der Jahrhunderte das Nordreich Israel regierten und 20, das Südreich Juda. Auf beiden Seiten finden sich Verschwörung, Hinrichtung, Diplomatie statt Gottesfurcht, Erpressung, Menschenopfer und Machtmissbrauch bis zum Krieg gegen die Angehörigen des eigenen Landes; aber hin und wieder geschieht auch Umkehr zum HERRN und Trauer über die begangenen Sünden in einem Land, das immer mehr zerfiel und infolge seiner schwachen Einheit und inneren Zerrüttungen immer mehr zur Zielscheibe der umliegenden Nationen wurde: Kriegszüge, Raub, Tributzahlungen, das Vassallentum eines einstmals blühenden und aufsteigenden Königreiches, bis hin zur Verschleppung der Bevölkerung nach Assur und Babylon. Selbst die Flucht einiger Judäer nach Ägypten scheitert und die Hand des HERRN führt sie in die Gefangenschaft unter der Herrschaft Nebukadnezars. 

Angesichts des Untergangs dieses gespaltenen Landes sticht die Botschaft seiner Geschichte umso deutlicher hervor: Weder Heeresstärke noch Bündnisse mit anderen Völkern oder gar die toten Götzen aus Holz und Stein konnten das geteilte Volk Israel aus ihren Bedrängnissen und selbstverschuldeten Verirrungen retten. Einzig und allein die Nachfolge hinter ihrem Gott her, der doch Seinen Willen, sie zu retten, bereits machtvoll demonstriert hatte, als Er sie aus der ägyptischen Sklaverei freikaufte und sie zu Seinem erwählten Volk machte - einzig und allein die Umkehr zum HERRN konnte wieder zum Frieden führen. Die größte Not dieser Nation waren nicht die Feinde, die sie bedrohten oder die Hungersnöte, die das Land plagten, sondern das mangelnde Vertrauen in ihren Erlöser, den wahren König Israels: "Als ihr aber saht, dass Nahasch, der König der Söhne Ammon, gegen euch zog, sagtet ihr zu mir: Nein, sondern ein König soll über uns herrschen! - obwohl doch der HERR, euer Gott, euer König ist" (1Sam 12,12).

Dennoch hatte sie der HERR nicht verworfen, obwohl sie lieber auf die Regierung eines Menschen setzten als auf die des allmächtigen Gottes, und gab ihnen Seine Zusage, sie nicht zu verlassen, wenn sie und ihr König treu bleiben würden: "Wenn ihr den HERRN fürchtet und ihm dient, auf seine Stimme hört und dem Mund des HERRN nicht widerspenstig seid und wenn ihr und der König, der über euch regiert, dem HERRN, eurem Gott, nachfolgt, so wird der Herr mit euch sein!" (1Sam 12,14). Allerdings würde es schwieriger sein, Gott treu zu bleiben, denn schon zur Zeit der Richter taten die Israeliten, was sie für richtig und gut hielten, ohne der zusätzlichen Verführung eines Königs zum Götzendienst: "In jenen Tagen war kein König in Israel. Jeder tat, was recht war in seinen Augen" (Richter 17,6; 18,1; 19,1; 21,15).

Was hätte sie noch aus der zunehmenden Verstrickung in ihre Sünden und ihrer Selbstzerstörung retten können außer die erneute Zuwendung zu ihrem Gott und die Erneuerung ihres Bundes mit ihm? Und doch war niemand bereit, auf Gottes Warnungen zu hören. Trotzdem hörte der HERR nicht auf, um sie zu werben und zu ihnen durch Seine Propheten zu sprechen. Die Tür zu Ihm stand offen und damit ging auch die Verheißung der Wiederherstellung Seiner Königsherrschaft einher, die Er unter anderem auch durch Amos verkündigte, 20 Jahre vor dem Fall des Nordreiches: "An jenem Tag richte ich die verfallene Hütte Davids auf, ihre Risse vermauere ich, und ihre Trümmer richte ich auf, und ich baue sie wie in den Tagen der Vorzeit" (Amos 9,11). Eine Verheißung, dessen vollständige Erfüllung erst zur Zeit Jesu in greifbare Nähe rücken sollte:

"Nathanael antwortete und sprach: Rabbi, du bist der Sohn Gottes, du bist der König Israels" (Joh 1, 49).


Fortsetzung folgt ...

Gnade versus Menschliche Stärke (5)

Er hat kein Gefallen an der Stärke des Rosses, 
noch Freude an den Schenkeln des Mannes. 
Der HERR hat Gefallen an denen, die ihn fürchten, 
an denen, die auf seine Gnade harren.
Psalm 147, 10.11


"Als ich drei Jahre alt war, wohnte unsere Familie im alten Haus meiner Großeltern. Die einzige Toilette befand sich im zweiten Stock. An einem Samstagnachmittag beschloss ich, ich sei groß genug, um die Toilette allein zu benutzen. Ich kletterte die Treppe hinauf, verriegelte hinter mir die Tür und kam mir für die nächsten paar Minuten sehr erwachsen vor.
    Dann wollte ich wieder hinaus. Aber ich bekam die Tür nicht auf. Ich versuchte es mit aller Kraft meiner drei Jahre, aber ich schaffte es nicht. Ich geriet in Panik. Meine Eltern - und vermutlich auch die Nachbarn - hörten mein verzweifeltes Geschrei. "Was ist los?", rief meine Mutter. "Ich krieg die Tür nicht auf!", brüllte ich.
    Mein Vater war bereits in die Garage gerannt, riss die Leiter vom Haken und lehnte sie an die Hauswand, genau unter dem Toilettenfenster. Er kletterte in mein Gefängnis, ging an mir vorbei, drehte den Schlüssel und machte die Tür auf.
    "Danke!", sagte ich - und lief davon zum Spielen.
    So ähnlich funktioniert auch das Leben eines Christen, dachte ich lange Zeit. Wenn ich irgendwo feststecke, versuche ich erst einmal, mich selbst zu befreien. Wenn das nicht geht, rufe ich im Gebet um Hilfe. Gott hört dann mein Geschrei: "Hol mich hier raus. Ich will spielen!" Er kommt und öffnet die Tür.
    Manchmal tut er das tatsächlich. Aber jetzt, wo ich nicht mehr drei Jahre alt bin, erkenne ich, dass der Glaube nicht immer so funktioniert. Und ich frage mich: Sind wir zufrieden mit Gott, mögen wir ihn noch, wenn er die Tür nicht aufschließt? Wenn eine Ehe nicht heil wird, wenn die Kinder weiter rebellieren, wenn Freunde uns im Stich lassen, die Gesundheit sich trotz Beten verschlechtert?
    Lieben wir Gott noch, wenn er zwar durch das kleine Fenster klettert, aber dann nicht vorbeigeht, um den Schlüssel zu drehen? Stattdessen hockt er sich auf den Boden und sagt: "Komm, setz dich zu mir!" Offenbar ist er der Meinung, für mich sei es wichtiger, dass er zu mir gekommen ist, als dass er mich zum Spielen raus lässt.
    Es liegt an uns. Wir können Gott entweder weiterhin bitten, uns zu geben, wovon wir uns das Glück erhoffen, oder wir können seine Einladung annehmen und uns zu ihm setzen - im Moment vielleicht noch im Dunkeln - und die Gelegenheit nutzen, ihn besser kennen zu lernen."
Lawrence Crabb in "Christsein ohne Krampf"


Ich habe unbeschreibliche Dinge geschaut. Aber damit ich mir nichts darauf einbilde, hat Gott mir einen »Stachel ins Fleisch« gegeben: Ein Engel des Satans darf mich mit Fäusten schlagen, damit ich nicht überheblich werde. Dreimal habe ich zum Herrn gebetet, dass der Satansengel von mir ablässt. 
Aber der Herr hat zu mir gesagt: »Du brauchst nicht mehr als meine Gnade. Je schwächer du bist, desto stärker erweist sich an dir meine Kraft.« Jetzt trage ich meine Schwäche gern, ja, ich bin stolz darauf, weil dann Christus seine Kraft an mir erweisen kann.
2. Korinther 12, 7-9

Gnade versus Selbstbetrug (4)




Still zu sein ist schwierig.



Nicht unbedingt, weil es langweilig ist, sondern weil es so viel Aufmerksamkeit erfordert; jedenfalls geht es mir immer so. Ich bin nicht mal still, wenn ich nichts tue. Meine Gedanken werden ständig von anderen Dingen fortgezogen. Früher war das noch anders, da war es viel einfacher, nicht ununterbrochen an eine bestimmte Sache zu denken oder einer Phantasie nachzulaufen. Jakobus 1,14 beschreibt diesen unaufhaltsamen Gedankenstrom ziemlich treffend: "Ein jeder aber wird versucht, wenn er von seiner eigenen Begierde fortgezogen und gelockt wird." Begierde ist wie ein Fortgezogen-Werden, das einen mitreißt. Spätestens dann, wenn man nicht mehr aufhören kann, an etwas bestimmtes zu denken, stellt man sich diese Frage: "Was will ich?

Ich stelle mir diese Frage in letzter Zeit ziemlich oft. Wenn ich an Gott denke, vergesse ich Ihn nach ein oder zwei Tagen. Und Gestern erneuerte ich wieder einmal den Entschluss, Gott zu suchen. Ich wusste auch, dass Gott in der Stille zu finden ist, aber es war nicht Stille, die ich wollte. Daraus folgerte ich, dass es mir gar nicht um Gott ging. Mir wurde klar, dass ich Gott nur finden wollte, damit er meine Probleme lösen würde, damit ich einen klaren Kopf hätte, um meine Träume ungehindert zu verfolgen. Ich wollte Gott suchen, aber nicht weil es mir um Gott ging, sondern weil ich etwas von ihm wollte, was nichts mit ihm zu tun hat. Das Ganze ist ziemlich verdreht und widersprüchlich. Unter jedem noch so vorbildhaften Vorhaben verbirgt sich ein Teil der Verderbtheit unseres Herzens. Alles was wir für Gott oder andere Menschen tun, tun wir zum Teil auch aufgrund von Selbstsucht. Das sollte uns nicht daran hindern, für Gott und andere Menschen zu leben: Gott verwendet zerbrochene Stäbe, um Seinen Willen zu erfüllen; Er kann auch Menschen mit selbstsüchtigen Absichten verwenden, um Seine guten Absichten ins Werk zu setzen. Eines sollte uns dabei aber klar sein: Es gibt keine absolut selbstlosen Absichten. Überall schleichen sich die eigenen Wünsche ein. Ein Beispiel: Ich schreibe diesen Beitrag, weil ich zum Teil hoffe, dass meine Einsichten bewundert werden, um Anerkennung zu gewinnen. Man kann sich auf so feinsinnige Weise selbst betrügen. Jetzt gerade, um ein weiteres Beispiel zu geben, bin ich von meiner Ehrlichkeit überzeugt. Aber auch in dem Vorhaben, sich selbst nicht zu betrügen, kann man sich selbst betrügen. Auch in der Absicht, vorbehaltlos ehrlich zu sein, liegt ein gewisser Stolz. Es gibt keine Ausnahme. Es gibt grundsätzlich kein Entkommen vor Selbstbetrug durch eigene Bemühungen.


Nach diesen Gedanken wurde es plötzlich still in mir. Und dann dachte ich an Gott und bereute so Einiges.


~


»Sie haben sich hilfesuchend an mich gewandt; ich will Ihnen helfen. Ich bin Arzt. Helfen ist mein Beruf.«
    »Viel zu simpel! Wir wissen beide, dass die Motive der Menschen weit komplexer sind und zugleich weit primitiver. Ich wiederhole meine Frage: Welches sind Ihre Motive?«
    »Die Sache ist so einfach, Professor Nietzsche! Jeder geht seinem Berufe nach: Der Schuster schustert, der Bäcker bäckt, der Doktor doktert. Jeder verdient sich seinen Lebensunterhalt auf seine Weise, übt seinen Beruf aus; meiner besteht darin, zu helfen und Schmerzen zu lindern.«
     Breuer gab sich alle Mühe, überzeugend und überzeugt zu klingen, tatsächlich wurde ihm mulmig. Nietzsches jüngster Schachzug gefiel ihm ganz und gar nicht.
    »Dies sind keine befriedigenden Antworten auf meine Frage, Doktor Breuer. Wenn Sie sagen: ein Doktor doktere, ein Bäcker backe oder ein jeder gehe seiner Arbeit nach, so hat dergleichen nicht das mindeste mit Motiven zu tun; es handelt sich um Gewohnheit. Sie unterschlagen bei Ihrer Antwort: Bewusstheit, Wille, Eigeninteresse. Dann ziehe ich doch die Erklärung vor, man verdiene sich seinen Lebensunterhalt, das wenigstens ist begreiflich. Man muss leben. Und doch verlangen Sie kein Geld von mir.«
    »Ich könnte die Frage ebensogut an Sie zurückgeben, Professor Nietzsche. Sie sagen, Ihre Arbeit bringe nichts ein; warum philosophieren Sie dann?« Breuer hatte Not, nicht in die Defensive zu geraten. Er hatte Schlagkraft eingebüßt, das spürte er.
    »Ah! Aber in einem Behufe unterscheiden wir uns ganz gewaltig. Ich gebe nicht vor, für Sie zu philosophieren, während Sie, verehrter Doktor, als Motiv auf Ihrem Wunsch beharren, mir zu dienen und mein Leid zu lindern. Derlei Behauptungen haben mit menschlichen Beweggründen nichts zu tun, sie gehören der Sklavenmoral an, geschuldet den Verführungskünsten der Priesterkaste! Sezieren Sie Ihre Bewegründe ganz! Sie werden feststellen, dass niemand jemals etwas ausschließlich für andere tut. Alles Tun ist auf das Selbst gerichtet, aller Dienst dient dem Selbst, alle Liebe ist Selbstliebe.«
    Nietzsches Worte sprudelten immer schneller. »Überrascht Sie meine Bemerkung? Vielleicht denken Sie an Ihre Nächsten und Liebsten. Graben Sie tiefer, und Sie werden feststellen, dass es nicht jene sind, die Sie lieben. Was Sie lieben, ist die angenehme Empfindung, die eine solche Liebe in Ihnen selbst weckt! Man liebt zuletzt seine Begierde. Ich frage Sie also erneut: Warum wünschen Sie mir zu dienen? Abermals Doktor Breuer...« - Nietzsches Ton wurde streng - »...welches sind Ihre Motive?«
     Breuer schwindelte. Er bezwang seine ersten Impuls: sich gegen die Hässlichkeit und Krudität der Worte Nietzsches zu verwehren und somit zweifellos dem ganzen ärgerlichen "Kapitel Nietzsche" ein Ende zu setzen. Einen Augenblick lang malte er sich aus, wie der Rücken eines erzürnt aus dem Raum stampfenden Nietzsche seinen Blicken entschwand. Mein Gott, den wäre er los! Wäre die ganze, leidige Sache los! Doch die Vorstellung, Nietzsche nie wieder zu sehen, stimmte ihn traurig. Es zog ihn stark zu diesem Mann hin. Weshalb nur? Ja, welches waren denn seine Motive?
(Irvin D. Yalom, Und Nietzsche weinte, Seite 163-165)


~


Was Irvin Yalom in seinem Roman Nietzsche zu Dr. Breuer sagen lässt (der Roman ist übrigens fiktiv; die beiden sind sich nie begegnet) ist nichts anderes, als eine Wiederholung von Römer 3,10-12:

... wie geschrieben steht: "Da ist kein Gerechter, auch nicht einer; da ist keiner, der verständig ist; da ist keiner, der Gott sucht. Alle sind abgewichen, sie sind allesamt untauglich geworden; da ist keiner, der Gutes tut, da ist auch nicht einer."

Manchmal wünsche ich mir, ich wäre absolut selbstlos. Ich wünschte, ich wäre dieser eine gerechte und verständige Mann, der Gott sucht. Aber ist das nicht ziemlich eingebildet? Warum will ich denn gerecht und verständig sein? Was sind meine Motive? Ich betrüge mich selbst. Gnade kämpft gegen Selbstbetrug mit sehr subtilen Mitteln an. Solange man nicht glaubt, dass man es nötig hat, von Gott beschenkt zu werden, solange wird man Gott nie wirklich schätzen können. Gnade ist immer eine Gabe, die freiwillig geschieht und die man sich nicht verdient hat. Solange man stolz ist und von sich etwas hält, kann man Gnade nicht verstehen, annehmen oder wertschätzen. Man kann sich Liebe nicht erarbeiten, weil geliebt zu sein bedeutet, angenommen zu sein, obwohl man sich nicht liebenswert verhält, obwohl man nicht so lebt, als ob man es wert wäre, geliebt zu sein. Würde man sich Liebe erst verdienen müssen, wäre man gar nicht geliebt, wie man wirklich ist.
    Nicht wir sind es, die selbstlos sind, sondern es ist Christus, der in uns und durch uns wirkt. Wir sind von Ihm abhängig und meistens gefällt mir das nicht wirklich. Es ist mir unangenehm, zuzugeben, dass ich Christus brauche, der mir einen Spiegel vorhält und mir sagt: "Dein Herz ist voll von Selbstsucht. Du kannst ohne mich niemanden lieben". Sein eigenes Herz aus eigener Kraft ändern zu wollen, ist ebenso unmöglich, wie eine Herztransplantation an sich selbst durchzuführen. Menschen lieben zu können, ist ein Geschenk Gottes. Man kann nur weitergeben, was man selbst empfangen hat. 


Und ich werde euch ein neues Herz geben 
und einen neuen Geist in euer Inneres geben; 
und ich werde das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen 
und euch ein fleischernes Herz geben. 
Hesekiel 36,26




Gnade versus Unzulänglichkeit (3.2)

Preist den HERRN, denn er ist gut. Denn seine Gnade währt ewig! 
Psalm 136,1

"Ich habe wunderschöne, von Menschen angelegte Gärten gesehen, die mich total begeistert haben - ein von Gott geschaffener Garten muss atemberaubend gewesen sein.", schreibt Mike Genung in seinem Buch Mein Weg zur Heilung. "Adam und Eva hatten 'allerlei Bäume ... lieblich anzusehen und gut zu essen'. Da mussten eigenartige Blumen mit üppigem, grünen Blattwerk existieren, majestätische Bäume voll von bunten Vögeln, köstliche, exotische Fruchtbäume und herzhaftes Gemüse. Der Klang des rauschenden Wassers von dem Fluss, der in Eden entsprang, musste im größten Teil des Gartens zu hören gewesen sein, begleitet von den Liedern der Vögel und anderer Tiere. Das muss ein fröhliches Leben gewesen sein, als würde man in Maui oder Tahiti leben - ohne die hohen kosten.
    Adam und Eva konnten dazu den unglaublichen Segen des beständigen Gegenwart Gottes genießen. In 1. Mose 3,8 lesen wir, dass sie 'hörten, wie Gott der Herr in der Abendkühle im Garten wandelte'. (Schade, das war, nachdem sie es vermasselt hatten.) Offenbar unternahmen sie am späten Nachmittag Spaziergänge mit dem Herrn. Er genoss es, Zeit mit Seiner Schöpfung zu verbringen.
    Von Anfang an überschüttete Gott Adam und Eva mit Segnungen. Vor dem Fall gab es keine Krankheit, Sorge, Angst, keinen Schmerz oder Tod. Für alle ihre Bedürfnisse wurde in überfließender Pracht gesorgt. Gottes Handeln offenbarte Sein Verlangen, Seine Schöpfung mit dem Besten zu segnen, das Er zu bieten hatte - das schließt die Freude an Seiner Gegenwart ein.
    Dann sündigten Adam und Eva, indem sie Früchte von dem einen Baum im Garten aßen, vom dem Gott gesagt, hatte, sie sollten nicht davon essen. Nachdem Er sie mit dem Besten überschüttet hatte und sie dann sündigen sah, hätte Gott sagen können: "Also, Adam und Eva, Version 1 hat nicht funktioniert, löschen wir beide und probieren wir es mit Version 2."
    Aber das tat Er nicht. Obwohl Adam und Eva die Konsequenzen ihres Handelns ernteten, fuhr Gott damit fort, ihnen Seine 'göttliche Liebe und Seinen Schutz frei zu gewähren'. Seine erste Handlung bestand darin, sie zu bekleiden, wozu Er ein Tier tötete. Gottes Gnade, Seine 'Gunst, die von einem gewährt wird, der sie nicht geben muss', hörte nicht auf, nachdem sie gesündigt hatten."


~

Vom HERRN her werden eines Mannes Schritte gefestigt, und seinen Weg hat er gern; fällt er, so wird er doch nicht hingestreckt, denn der HERR stützt seine Hand. 
Psalm 37, 23.24


Nachdem Kain seinen Bruder Abel erschlagen hatte, war seine Antwort auf Gottes Frage "Wo ist dein Bruder?" ziemlich barsch: "Ich weiß nicht. Bin ich meines Bruders Hüter?" (1. Mose 4,9). Nicht nur, das er seinen Bruder ermordet hat - scheinbar ist es ihm auch gleichgültig. Ich könnte Gott verstehen, wenn er Kain endgültig zum Teufel jagen würde. Aber das tat er nicht:
Und er sprach: Was hast du getan! Horch! Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden her. Und nun, verflucht seist du von dem Ackerboden hinweg, der seinen Mund aufgerissen hat, das Blut deines Bruders von deiner Hand zu empfangen! Wenn du den Ackerboden bebaust, soll er dir nicht länger seine Kraft geben; unstet und flüchtig sollst du sein auf der Erde! Da sagte Kain zu dem HERRN: Zu groß ist meine Strafe, als dass ich sie tragen könnte. Siehe, du hast mich heute von der Fläche des Ackerbodens vertrieben, und vor deinem Angesicht muss ich mich verbergen und werde unstet und flüchtig sein auf der Erde; und es wird geschehen: Jeder, der mich findet, wird mich erschlagen. Der HERR aber sprach zu ihm: Nicht so, jeder, der Kain erschlägt - siebenfach soll er gerächt werden! Und der HERR machte an Kain ein Zeichen, damit ihn nicht jeder erschlüge, der ihn fände. So ging Kain weg vom Angesicht des HERRN und wohnte im Land Nod, östlich von Eden. Und Kain erkannte seine Frau, und sie wurde schwanger und gebar Henoch. Und er wurde der Erbauer einer Stadt und benannte die Stadt nach dem Namen seines Sohnes Henoch.
1. Mose 4, 10-17

Obwohl die Folgen von Kains Sünde schwerwiegend waren, hörte Gott nicht auf, Kain zu segnen. Er versorgten ihn mit Schutz vor Verfolgern, er schenkte ihm einen Sohn, er wurde der Erbauer einer Stadt. Er hätte den Tod verdient, aber stattdessen erhielt er Schutz und eine gesegnete Zukunft.


~

So sprich zu ihnen: So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: Ich habe kein Gefallen am Tode des Gottlosen, sondern dass der Gottlose umkehre von seinem Wege und lebe. So kehrt nun um von euren bösen Wegen. Warum wollt ihr sterben, ihr vom Hause Israel?
Hesekiel 33, 11


Sodom war durchsetzt von Perversion und Bosheit. Über diese Stadt gab es wirklich nichts Gutes zu sagen. Sodom war von Grund auf verdorben und die Stadt zu verschonen, hätte das Risiko bedeutet, dass noch mehr Menschen in ihren Bann gezogen und auf denselben Weg der Zerstörung herabgezogen werden würden. Es gab keine Hoffnung, dass sich ihre Bewohner vom Elend ihrer Sünden abwenden würden. Und nicht einmal hier hörte Gottes Gnade auf:

(1) Er ließ sich von Abraham bitten, die Stadt zu verschonen.
(2) Er war bereit, die Stadt um zehn Personen willen zu verschonen, die nicht so lebten, wie die Bewohner von Sodom.
(3) Er schenkte Lots gesamter Familie Gnade und verschonte sie vor der Zerstörung der Stadt (bis auf Lots Frau, die das Angebot nicht annahm).
(4) Die Zerstörung Sodoms rettete andere davor, verdorben zu werden.
(5) Obwohl Sodom Lots Töchter so weit verdorben hatte, dass sie aus Angst vor fehlenden Nachkommen mit ihrem Vater Kinder zeugten, machte Gott ihrer beider Söhne zu Stammvätern zweier Nationen (Moab und Ammon), obwohl beide später mit Israel verfeindet waren. Ruth, die Moabitern, wurde sogar ein Teil des Stammbaums Jesu.

Obwohl wir darüber nichts in der Schrift lesen, wäre ich nicht überrascht, wenn der Herr bei der Zerstörung Sodoms geweint hätte. - Mike Genung

Dieser Gedanke ist gar nicht so abwegig, wenn wir uns die Reaktion von Jesus ansehen, als er über die bevorstehende Zerstörung Jerusalems weinte:

Und als er sich näherte und die Stadt sah, weinte er über sie und sprach: Wenn auch du an diesem Tag erkannt hättest, was zum Frieden dient! Jetzt aber ist es vor deinen Augen verborgen. Denn Tage werden über dich kommen, da werden deine Feinde einen Wall um dich aufschütten und dich umzingeln und dich von allen Seiten einengen; und sie werden dich und deine Kinder in dir zu Boden werfen und werden in dir nicht einen Stein auf dem anderen lassen, dafür, dass du die Zeit deiner Heimsuchung nicht erkannt hast.
Lukas 19, 41-44

Ich dachte immer, dass Gottes Zorn ganz einfach nur Zorn ist. Aber haben wir uns jemals gefragt, ob Gott nicht jedesmal, wenn er zornig ist, auch furchtbar traurig ist? Lies einmal folgende Stelle ohne einen Funken Mitgefühl:

Und das Schwert wird kreisen in seinen Städten und seinen Schwätzern ein Ende machen, und es wird fressen wegen ihrer Ratschläge. Aber mein Volk bleibt verstrickt in die Abkehr von mir. Und ruft man es nach oben, bringt man es doch insgesamt nicht dazu, sich zu erheben. - Hosea 11, 6.7
Der Vers, der danach kommt, lässt aber einen ganz anderen Gott erkennen:
Wie sollte ich dich preisgeben, Ephraim, wie sollte ich dich ausliefern, Israel? Wie könnte ich dich preisgeben wie Adma, dich Zebojim gleichmachen? Mein Herz kehrt sich in mir um, ganz und gar erregt ist all mein Mitleid. - Hosea 11,8

Gottes Zorn ist niemals kalt und ohne Mitgefühl. Selbst in seinem Zorn, brennt in ihm der sehnliche Wunsch, sein Volk zu segnen und zu heilen, denn seine Gnade währt ewig. Sein Wunsch, seine Schöpfung zu segnen, hört zu keinem Zeitpunkt auf - wie könnte er da anders, als zu weinen, wenn er sein Gericht ankündigen muss?


~

Und was soll ich noch mehr sagen? Die Zeit würde mir zu kurz, wenn ich erzählen sollte von Gideon und Barak und Simson und Jeftah und David und Samuel und den Propheten.
Hebräer 11, 32


Welche Geschichte wir auch betrachten, Gottes Gnade hört niemals auf, und sein Wille, seine Schöpfung zu segnen, hat kein Ende. Theoretisch könnten wir also ohne Ende von Gottes Segnungen erzählen. Von einem Propheten würde ich aber gerne noch erzählen. Es ist ein Ausschnitt der Geschichte Daniels. 

Kurz vor dem Jahr 600 v.Chr. wird Daniel nach Babylonien deportiert. Wie von Jeremia angekündigt, sollte Jerusalem von den Babyloniern zerstört werden und 70 Jahre in Trümmern liegen. Psalm 137 erzählt das Leid der Israeliten in Gefangenschaft:

An den Flüssen von Babylon saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten. An die Weiden dort hängten wir unsere Zithern. Die uns gefangen hielten, forderten von uns, eines unserer Lieder zu singen, unsere Peiniger verlangten von uns, fröhlich zu sein: »Singt uns eines eurer Zionslieder!« Doch wie könnten wir ein Lied für den Herrn auf fremdem Boden singen? Jerusalem, wenn ich dich je vergesse, dann soll meine rechte Hand mir ihren Dienst versagen! Meine Zunge soll mir am Gaumen kleben, wenn ich nicht mehr an dich denke, wenn Jerusalem nicht mehr meine allergrößte Freude ist! - Psalm 137, 1-6

Nach knapp 50 Jahren in babylonischer Gefangenschaft, nach 50 Jahren Funkstille zwischen Gott und seinem Volk, als Drangsal und Gelächter durch die Babylonier schon längst zum Alltag geworden waren, könnte man vermuten, dass die meisten Israeliten die Hoffnung aufgegeben hatten, Jerusalem jemals wiederzusehen. Aber es gab jemanden, der sich mitten in der Hoffnungslosigkeit an Gottes Zusagen erinnerte: 
Im ersten Jahr des Darius, des Sohnes des Ahasveros, vom Geschlecht der Meder, der über das Reich der Chaldäer König geworden war, im ersten Jahr seiner Königsherrschaft achtete ich, Daniel, in den Bücherrollen auf die Zahl der Jahre, über die das Wort des HERRN zum Propheten Jeremia geschehen war, dass nämlich siebzig Jahre über den Trümmern Jerusalems dahingehen sollten. Und ich richtete mein Gesicht zu Gott, dem Herrn, hin, um ihn mit Gebet und Flehen zu suchen, in Fasten und Sack und Asche. - Daniel 9, 1-3

Ich sehe Daniel praktisch vor mir, wie die Sehnsucht nach Jerusalem in diesem Moment in ihm hochgestiegen sein musste und er anfängt, ein gewaltiges Bußgebet zu sprechen, voller Ergriffenheit über seine Schuld und die Schuld des Volkes (Daniel 9, 4-19; es lohnt sich wirklich, dieses Gebet zu lesen). 
Während ich noch redete und betete und meine Sünde und die Sünde meines Volkes Israel bekannte und mein Flehen für den heiligen Berg meines Gottes vor den HERRN, meinen Gott, hinlegte - und während ich noch redete im Gebet, da, zur Zeit des Abendopfers, rührte mich der Mann Gabriel an, den ich am Anfang in der Vision gesehen hatte, als ich ganz ermattet war. Und er wusste Bescheid, redete mit mir und sagte: Daniel, jetzt bin ich ausgegangen, um dich Verständnis zu lehren. Am Anfang deines Flehens ist ein Wort ergangen, und ich bin gekommen, um es dir mitzuteilen. Denn du bist ein Vielgeliebter. - Daniel 4, 20-23a

Daniel stand zu seiner Unzulänglichkeit und dem Versagen seines Volkes. In diesem Moment tiefer Demut und flehendem Verlangen nach Gott, wird er erhört! 

Hier liegt der Schlüssel, wie wir die Angst vor unserem Versagen überwinden können: Indem wir vor Gott zu unserer Schwachheit stehen. Das können wir nur, wenn wir wissen, wie Gott reagieren wird. Und wir dürfen wissen, dass seine Gnade niemals aufhört:

Und er sprach zu mir: Daniel, du vielgeliebter Mann! Achte auf die Worte, die ich zu dir rede, und steh an deinem Platz! Denn ich bin jetzt zu dir gesandt. Und als er dieses Wort mit mir redete, stand ich zitternd auf. Und er sprach zu mir: Fürchte dich nicht, Daniel! Denn vom ersten Tag an, als du dein Herz darauf gerichtet hast, Verständnis zu erlangen und dich vor deinem Gott zu demütigen, sind deine Worte erhört worden. Und um deiner Worte willen bin ich gekommen. - Daniel 10, 11.12

Gnade versus Unzulänglichkeit (3.1)

Und er sprach zu mir: Daniel, du vielgeliebter Mann! Achte auf die Worte, die ich zu dir rede, und steh an deinem Platz! Denn ich bin jetzt zu dir gesandt. Und als er dieses Wort mit mir redete, stand ich zitternd auf. Und er sprach zu mir: Fürchte dich nicht, Daniel! Denn vom ersten Tag an, als du dein Herz darauf gerichtet hast, Verständnis zu erlangen und dich vor deinem Gott zu demütigen, sind deine Worte erhört worden. Und um deiner Worte willen bin ich gekommen.
Daniel 10, 11.12

Letzte Woche hatte ich einen ziemlich interessanten Alptraum:
Während eines Ausfluges mit ein paar mir unbekannten Bekannten (kann schon mal vor kommen in einem Traum) finden wir einen See und gehen schwimmen. Während wir schwimmen, treiben zwei kleine Klumpen im Wasser vorbei, die ich aus dem Wasser fische, um sie genauer anzusehen und halte plötzlich zwei abgetrennte Füße in der Hand, die noch bluten. Erschrocken werfe ich sie weg. Irgendetwas hat vor Kurzem jemandem die Füße abgetrennt, irgendetwas im See. Wir schwimmen zu einer kleinen Insel, ein paar Schritte vom Ufer entfernt. Plötzlich nähert sich ein Mann der Insel, während er ständig diese Frage stellt: "Hat jemand versagt?" Er kommt schnell näher, die Frage gierig wiederholend: "Hat jemand versagt? Hat jemand versagt?" Er ist auf der Jagd nach einem Versager. Ich bekomme Angst, weil ich weiß, dass er es auf mich abgesehen hat. Er wittert meine Angst. Er ist begierig von meiner Versagensangst angezogen und will mich meucheln und mir meine Füße abtrennen. In meiner Panik springe ich ans Ufer. "Hat jemand versagt?" Er steht im Wasser mit einem Messer in der Hand, aber er kommt nicht ans Ufer. Erst jetzt, außerhalb des Wassers, gestehe ich mir ein, versagt zu haben. Dann bin ich unter heftigem Atmen aufgewacht.

Es gibt Dinge, die unschätzbar wichtig sind, aber über die fast nie geredet wird. Vielleicht weil sich nie eine Gelegenheit dazu bietet. Oder weil man nie auf die Idee kommen würde, über solche Dinge zu reden, ohne gefragt zu werden. Oder weil sie so ungewöhnlich oder kompliziert sind, dass sie in einem gewöhnlichen Gespräch nie zum Thema werden würden. Oder weil man sie so tief in sich verschlossen hat, dass man selbst nichts davon weiß - und daran leidet man oft.
    Eines dieser Dinge ist Unzulänglichkeit. Natürlich wäre es furchtbar deprimierend, wenn alle Menschen nur noch darüber reden würden, in welchen Momenten sie versagt haben. Auf der anderen Seite betrifft dieses Thema alle Menschen: Es ist unsere gefallene Natur, die uns unfähig macht, andere Menschen zu lieben. Es ist einer dieser harten Fakten, über die man fast nie redet; vielleicht, weil wir nicht wissen, wie wir mit dieser Unzulänglichkeit umgehen sollen. Das Schweigen macht es oft sehr schwer für Menschen, die von der Angst zu scheitern gelähmt sind, ein offenes Ohr zu finden. 


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Ich verwechsle oft Vorsicht und Besonnenheit mit meiner Angst zu versagen. Ich bin manchmal so übervorsichtig, dass es mich lähmt, und das richtet oft viel mehr Schaden an, den ich anrichten hätte können, wenn ich etwas getan hätte. Ziemlich absurd, nicht? Stell dir vor, was passiert wäre, wenn Adam in dem Moment, als Eva von der Schlange versucht wurde, eingegriffen hätte. Wovor also habe ich eigentlich Angst? Ich habe Angst, dass meine Unzulänglichkeit von allen entdeckt werden könnte. Und was würde dann passieren? Deswegen verberge ich meine Unfähigkeiten mit meinen Fähigkeiten. Nur Einem kann ich damit nichts vormachen. Warum also trete ich nicht vor Gott und stelle mich meinem Versagen als Mensch? Weil ich nicht den Mut habe, vor Ihn zu treten. Warum also habe ich nicht den Mut? Weil ich Gott nicht kenne. Würde ich Ihn kennen und seine Reaktion auf mein Versagen, dann könnte Er mir einen neuen Weg zeigen und ich müsste nicht mehr Angst haben, zu scheitern.

Wir kennen wahrscheinlich alle das Gleichnis vom faulen Knecht, dem ein Talent (ca. 25 kg) Silber bzw. Gold anvertraut wird, und das uns nicht gerade sehr viel Mut macht, wenn wir die letzten Verse lesen:

Dann kam der Diener mit dem einen Beutel Gold und sagte: `Herr, ich weiß, du bist ein strenger Mann, der erntet, was er nicht gepflanzt hat, und sammelt, was er nicht angebaut hat. Ich hatte Angst, dein Geld zu verlieren, also vergrub ich es in der Erde. Hier ist es´ Aber der Herr erwiderte: `Du böser, fauler Diener! Du hältst mich für einen strengen Mann, der erntet, was er nicht gepflanzt hat, und der sammelt, was er nicht angebaut hat? Du hättest wenigstens mein Geld zur Bank bringen können, dann hätte ich immerhin noch Zinsen dafür bekommen. Nehmt diesem Diener das Geld weg und gebt es dem mit den zehn Beuteln Gold. Wer das, was ihm anvertraut ist, gut verwendet, dem wird noch mehr gegeben, und er wird im Überfluss haben. Wer aber untreu ist, dem wird noch das wenige, das er besitzt, genommen. Und nun werft diesen nutzlosen Diener hinaus in die Dunkelheit, wo Weinen und Zähneknirschen herrschen.´
Matthäus 25, 24-30

Warum entmutigt uns dieses Gleichnis? Ich glaube, wir wissen nicht, worum es in diesem Gleichnis geht. Du hältst mich für einen strengen Mann, der erntet, was er nicht gepflanzt hat, und der sammelt, was er nicht angebaut hat? Sein Knecht hatte Angst vor der Reaktion seines Herrn, falls er versagen würde. Deshalb vergrub er alles, was ihm sein Herr anvertraut hatte in mühevoller Arbeit. Obwohl sein Herr ihm seinen Fähigkeiten entsprechend genug anvertraut hatte (Vers 15), vergrub er es. Sein Herr hatte Vertrauen in ihn. Wenn wir denken, dass Jesus ein strenger Mann ist, wird uns die Angst vor seiner Reaktion auf unser Versagen lähmen und wir werden nichts für ihn tun. Ich frage mich, ob der Knecht seinen Herrn überhaupt kannte, oder ob er eine verdrehte Sicht von ihm hatte. Und obwohl der Knecht ihn für streng hielt, trug er das Geld nicht einmal zur Bank. Ich glaube, dass ich diesem Knecht sehr ähnlich bin.

Gnade versus Verlassenheit (2)

Ein Newsweek-Artikel berichtet, dass amerikanische Väter der Mittelklasse durchschnittlich 15-20 Minuten täglich mit ihren Kindern verbringen. In vielen Fällen sind sie beziehungsmäßig abwesend, selbst wenn sie körperlich anwesend sind. Wir brauchen Männer, die in ihrem Leben ihre Familien an erste Stelle ihrer Prioritäten setzen. Männer, die ihren Kindern ebensoviel von sich selbst geben, wie sie es bei ihrer Arbeit tun. (James Harnisch) 
Noch nie wurde so viel geredet und geschrieben über die "Vaterlosigkeit in unserer Gesellschaft" wie heute. Natürlich hat jedes Kind einen biologischen Vater, aber auch wenn dieser im gemeinsamen Haushalt mit seinen Söhnen und Töchtern lebt, bedeutet dies noch lange nicht, dass er tatsächlich für seinen Familie über seine Rolle als Geldgeber hinaus zur Verfügung steht. (Roswitha Wurm, Vaterseelenallein, aus LYDIA 3/2013)

Warum ich das alles schreibe ist ganz einfach: Ich bin kein Einzelfall; meine Geschichte ist klischeeverdächtig. Wenn ich unterwegs bin und meine Straßenbahngefährten beobachte, stelle ich mir manchmal nur eine Frage: Wie ist wohl die Beziehung zu ihren Vätern? Die Antwort ist fast immer die Gleiche. (Obwohl ich zugeben muss, dass ich darüber nur spekulieren kann.)
    Mein Großvater hat seinen Vater nie kennengelernt, der so um anno 1930 nach Argentinien auszog, während er (mein Großvater) bei seinen Tanten aufwuchs. Ein paar Jahrzehnte ist es schon her, als die Mutter meines Großvaters in einem verwahrlosten Zustand an seinem Arbeitsplatz (Steuerprüfung) erschien. Die Ehe dürfte nicht sehr glücklich gewesen sein. Vor ein paar Wochen meinte mein Opa, er hätte gern noch erfahren, was damals schief gelaufen war, dass aber vermutlich niemand mehr am Leben sei, der ihm eine Antwort geben könnte. Als er sagte, dass dies die Geheimnisse des Lebens seien, die man nie erfahren werde, erkannte ich die Menge an unbeantworteten Fragen, die in seinem Innersten wirbelten. Warum hatte ihn sein Vater zurückgelassen? Warum verwahrloste seine Mutter? Warum hatte man ihn verlassen? Mein Großvater hatte keinen Vater. Die Wunde, die dabei entstand, als er verlassen wurde, ist bis heute nicht geheilt.

In gewisser Weise kann ich meine Mutter nicht vergessen. Es ist fast schon ein Verlangen, bei ihr zu sein. Trauer ist viel schwieriger zu ertragen, wenn man sich nicht versöhnt hat. Und wenn der Tod kommt, ist der Konflikt für immer eingefroren. (Irwin D. Yalom)


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Die Ampel wurde grün, der Verkehr kam in die Gänge und wir gingen aneinander vorüber, jeder auf die von ihm aus gegenüberliegenden Straßenseite, ohne uns besondere Beachtung geschenkt zu haben. Aber als ich mich noch einmal umdrehte um den Mann zu beobachten, der meinem Vater so ähnlich sah, wie er alleine am Straßenrand entlang ging und sich immer weiter von mir entfernte, spürte ich ein heftiges Ziehen in seine Richtung. Es gibt ein bedeutendes Verlangen im Herzen jedes Menschen, dass man nur schwer beschreiben kann. Meistens ist es verschüttet worden; aber auf die eine oder andere Weise dringt es immer an die Oberfläche und wird mit Dingen gestillt, die damit scheinbar nichts zu tun haben. Wenn man keine Antwort auf diese Vatersehnsucht hat, kann das im schlimmsten Fall zur Selbstzerstörung führen. Ich kann hier in aller Kürze nur andeuten, wie schmerzhaft es sein kann, keinen Vater zu haben, oder keinen, der für einen da ist und wie tief diese Suche nach einem Vater in jedem Menschen steckt. Die Meisten wissen nicht, wonach sie suchen und ich beobachte, dass es auch die meisten Christen nicht wissen. Sie strecken ihre Hand aus, aber sie wissen nicht wonach. Sie wissen nicht, was sie erhalten werden, wenn sie ihre Hand wieder zurückziehen. Ich habe mich oft gefragt, was uns überhaupt dazu treibt, die Dinge zu tun, die wir tun. Was ist es, was wir wollen? Irgendwo muss dieses Wollen doch herkommen! Was ist es, was wir im Grunde unserer Seele eigentlich wollen? Und warum stellen wir fest, je älter wir werden, dass es nie genug ist?

Mir scheint, die wichtigste Suche im Leben ist die Suche des Menschen nach seinem Vater. Nicht in erster Linie nach dem leiblichen Vater, auch nicht nach dem verlorenen Vater seiner Kindheit. Die Suche des Menschen gilt dem Inbegriff der Stärke und Weisheit, etwas außerhalb seiner selbst und seiner Bedürnisse, etwas weit Überlegenem, mit dem der Glaube und die Kraft des eigenen Lebens sich verbinden können. (Thomas Wolfe, The Story of a Novel)

Thomas Wolfe hat hier vielleicht den Kern unseres ganzes Strebens freigelegt: Etwas weit Überlegenes, mit dem der Glaube und die Kraft des eigenen Lebens sich verbinden können. Ich weiß, dass das ziemlich abstrakt und langweilig klingt, aber ich kann's im Moment nicht besser auf den Punkt bringen. Ich möchte nur darauf aufmerksam machen, wer es ist, der uns geben kann, was wir suchen, ob wir das nun in unseren Herzen wissen oder nicht. Und ich möchte euch herausfordern, eine Antwort auf diese Frage zu suchen: Wer ist GOTT?


Der Inbegriff von Stärke und Weisheit
Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus! [...]
In ihm haben wir die Erlösung durch sein Blut, die Vergebung der Vergehungen, nach dem Reichtum seiner Gnade, die er uns reichlich gegeben hat in aller Weisheit und Einsicht. Er hat uns ja das Geheimnis seines Willens zu erkennen gegeben nach seinem Wohlgefallen, das er sich vorgenommen hat in ihm für die Verwaltung bei der Erfüllung der Zeiten; alles zusammenzufassen in dem Christus, das, was in den Himmeln, und das, was auf der Erde ist - in ihm. [...]
Er erleuchte die Augen eures Herzens, damit ihr wisst, was die Hoffnung seiner Berufung, was der Reichtum der Herrlichkeit seines Erbes in den Heiligen und was die überragende Größe seiner Kraft an uns, den Glaubenden, ist, nach der Wirksamkeit der Macht seiner Stärke. Die hat er in Christus wirksam werden lassen, indem er ihn aus den Toten auferweckt und zu seiner Rechten in der Himmelswelt gesetzt hat hoch über jede Gewalt und Macht und Kraft und Herrschaft und jeden Namen, der nicht nur in diesem Zeitalter, sondern auch in dem zukünftigen genannt werden wird.
Epheser 1, Vers 3a, Vers 7-10 und 18-21

Wenn es einen Inbegriff von Stärke und Weisheit gibt, dann ist das der dreieinige Gott selbst!

Ich weiß nicht, ob die bunten Farben hilfreich oder irritierend sind, aber allein die Schlagworte, die in Verbindung mit Gottes Wesen und Handeln verwendet werden, verweisen auf seine schreckliche Heiligkeit: Reichtum - Macht - Gnade - Kraft - Berufung - Herrschaft - hoch über jede Gewalt - Hoffnung - Herrlichkeit - überragende Größe - Stärke - Wirksamkeit - Wille - Weisheit und Einsicht - 



Vater.